“Die Marschmenschen” von Axel Marquardt
30. März 2006, 09:30 Uhr von pantoffelpunkAls ich am vergangenen Sonntag Morgen durch unseren Yard gecruist bin (so sagt man heute), fiel mir ganz spontan eine Geschichte über die “Marschmenschen” von Herrn Axel Marquardt ein, die ich irgendwann Anfang der 90er in der “Kowalski” (‘Titanic für Mofa-Fahrer’, Fanny Müller ebendort) gelesen habe. Die Fotos sind zwar nicht direkt in der Marsch geknipst, die Entstehungsorte liegen aber in der Einflugschneise der Marschmenschen, die während ihres Samstag-nächtlichen Discotheken-Hoppings sehr regelmäßig ihre eigene Art der Reviermarkierung hinterlassen:
Und 5 km weiter dann das:
Und hier der assoziierte Text von Herrn Marquardt:
Das Leben der Marschmenschen
Die Menschen der Marsch lassen sich lediglich in zwei Gruppen einteilen: in junge und alte Menschen. Die andernorts üblichen Unterscheidungen in männlich/weiblich, reich/arm, schön/häßlich usw. gelten hier nur eingeschränkt.
Der Übergang von jung zu alt ist nicht fließend, sondern erfolgt jäh: entweder am Tag der Eheschließung oder in dem Augenblick, in dem einem bewußt wird, daß man keinen Partner mehr finden wird.
Ist man jung, darf man so allerlei: In Schänken über die Maßen Bier und Beschleuniger trinken und dabei lärmen und Zoten von sich geben, das Motorrad fahren, Diskotheken und Zeltfeste aufsuchen, Mitglied in der Freiwilligen Feuerwehr und im Spielmannszug und im Sportverein sein, arbeiten und sich totfahren.
Ist man alt, darf man weiterarbeiten, bei den Schwiegereltern anbauen, sich Möbel bei lkea und Möbel Unger und einen Opel Astra kaufen und sich totfahren.
Am liebsten fährt sich der Marschmensch tot. Das macht er gemeinhin so: In einer leichten Linkskurve kommt er nachts so gegen halb zwei aus ungeklärter Ursache, die 2,7 Promille beträgt, und aufgrund überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn ab und knallt gegen einen Chausseebaum und wird dann von den Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr aus dem Wrack herausgeschnitten. Die stecken dann zwei Tage später ein Kreuzchen an den Straßenrand, auf dem sie bedauern, daß ihr Kamerad von ihnen gegangen ist, und beteuern, daß sie an ihn denken werden. Dann gehen sie in die Schänke, trinken, wollen dann heim und fahren sich unter Umständen tot.
Der junge Marschmensch scheut die Ferne. Schon die Nachbarsiedlung ist ihm sehr verdächtig und unheimlich. Oft spricht er aus, was alle denken: daß er dort ums Verrecken nicht wohnen wolle. Verschlägt es ihn durch Älterwerden oder andere Widrigkeiten und Wechselfälle des Lebens doch irgendwann dorthin, preist er im Kreise seiner neuen Kameraden von der Freiwilligen Feuerwehr alsbald die Schönheit seiner neuen Heimat und weist entschieden darauf hin, daß er nie wieder, und zwar ums Verrecken nicht, in seiner alten Siedlung leben möchte.
Wie um dies zu bekräftigen, trinkt er dann entschlossen viel Bier und Beschleuniger und fährt sich vielleicht tot.
Bei all diesen befremdlichen Eigenarten muß man sich immer wieder vor Augen halten, daß der Marschmensch in der Regel unter dem Meeresspiegel lebt! Infolge des Deichbaus verlor er zwar im Lauf der Evolution Kiemen und Flossen, an die er sich nur noch in Redewendungen wie »Nimm die Flossen von meinem Bier« und »Ich knall mir gleich einen Beschleuniger hinter die Kiemen« erinnert, aber dennoch ist es nicht leicht, immer so weit unten zu leben.
Denken wir daran, wenn wir wieder einmal den Stab über diese Spezies zu brechen geneigt uns zu fühlen glauben müssen.
»Die Marschmenschen – Expeditionen in eine Terra incognita«, Rake-Verlag Rendsburg, 125 Seiten