Wie jeden Tag habe ich – wie fast alle – gearbeitet. Aus dem Radio des Kollegen hörte ich davon, dass ein Flugzeug in das World Trade Center geflogen sei. Eine sofort eingeleitete Google Suche nach “webcam World Trade Center” ergab zwar eine ganz schöne Anzahl von ebensolchen, aber keine davon war erreichbar. Also glaubte ich das erstmal und freute mich – wie alle – schon auf die Fernsehbilder, denn letztlich bin ich genau so geil auf bewegte Bilder von Gewalt und Katastrophen – zumal wenn Feuer und Qualm dabei ist – wie alle.
Als ich abends zu Hause war, schaltete ich – wie alle – den Fernseher ein und war – wie alle – fasziniert von dem, was uns da geboten wurde. “Unglaublich!” war – das weiß ich noch genau – das Wort des Abends, die pantoffelfrau und ich wechselten uns ab, “Unglaublich!” zu sagen, sicher drei Stunden lang.
Denn – wie alle – habe ich bestimmt drei Stunden vor dem Fernseher gesessen und – wie alle – habe ich nach der 50ten Wiederholung der Einschläge gehofft, dass es noch bessere Bilder gibt, Close-Ups. Mehr Einzelheiten, bitte. Insgeheim war ich mit meiner Geilheit auf noch mehr Verderb – wie alle – etwas enttäuscht, dass das zweite Flugzeug auf einer Wiese abgestürzt ist und auch das dritte so wenig Leid gebracht, so wenig aufrüttelnde Schicksale generiert hat, über die betroffen hätte berichtet werden können.
“Heute sind wir alle Amerikaner!” heulte Gerhard Schröder in die Kameras der angeschlossenen Funkhäuser und ich widersprach. Zur Sicherheit sah ich noch einmal in meinen Personalausweis, doch genau wie heute vormittag, war ich immer noch – wie alle Deutschen – kein Amerikaner.
Mir am nächsten Tag eine Zeitung zu kaufen hatte ich mir gespart, die Wirkung der Bilder, die ich – wie alle – ja nun oft genug gesehen hatte, ließ nach und auf Befindlichkeitsjournalismus habe ich einfach keine Lust. “Was haben Sie gefühlt, als sie die Bilder der Menschen gesehen haben, die in Ihrer schier ausweglosen Verzweiflung aus den obersten Stockwerken des World Trade Centers gesprungen sind?” “Oh, es war furchtbar! Ich war furchtbar betroffen, wie da die Menschen aus den obersten Stockwerken des WTC gesprungen sind, das muss ja eine schier ausweglose Verzweiflung gewesen sein!”
Warum hat eigentlich niemand die Eier in der Hose, zu antworten: “Hmm. Hat mich jetzt iegentlich nicht so interessiert. Ich bin früh ins Bett gegangen und habe mir schön einen von der Palme gewedelt.”
Nein, betroffen waren sie alle. Alle. Vom Obdachlosen bis zum Milliardär, von links nach rechts, von oben nach unten, von schwarz bis weiß. Bis auf einige Nazis, die den Anschlag als längst fällige politische Lehre verstanden wissen wollten, waren alle betroffen. Als ich um 1990 herum an der Fachschule für Sozialpädagogik meine erste Ausbildung absolvierte, habe ich mit einem Freund eine vierseitige Zeitung Witzblatt Schmierblatt herausgegeben – es hieß „ein Stück weit betroffen!“. Denn Sozialpädagogen und Erzieherinnen sind und waren immer betroffen, wenn irgendwo ein Lebewesen Leid ertragen musste und meistens waren sie ein Stück weit betroffen. Professionelle Distanz hätte sicher in den meisten Fällen besser geholfen, doch der gemeine Sozialpädagoge musste damals mit einem Kopfsprung tief in das Leid hineintauchen, darin baden und es sich zu eigen machen. Mitleiden. Mitleiden und betroffen sein. Heute hat sich dieser Trend in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet. Politiker sind betroffen, wenn Ausländer angezündet werden oder ein Passagierschiff versinkt. Manager wähnen sich betroffen, wenn sie die Belegschaft entlassen. Und jetzt ist auch Lieschen Müller betroffen. Und ihr Gatte.
Mitleiden und von Ereignissen betroffen sein, von denen man im eigentlichen Wortsinne nicht betroffen ist, machen Menschen, die so blutarm sind, dass sie intensive Regungen nur verspüren, wenn sie von außen zugeführt werden. Bei verordneten Betroffenheitskampagnen kommt sogar noch das verbindende Moment dazu, in dieser ach so schweren Stunde nicht allein zu sein. In Kiel blieben um Punkt 12:00 Uhr des nächsten Tages hunderte Menschen mitten in der Innenstadt stehen, um unter Glockengeläut eine Schweigeminute für die Opfer einzulegen und mich für meine derweil laut geführten Selbstgespräche böse anzublicken. Und die, die da standen und kollektiv um Menschen trauerten, die sie zuvor nie gesehen hatten, sind die selben, die an einem anderen Tag ein paar Jahre zuvor keine Zeit hatten, sich an selber Stelle um eine am Boden liegende und blutende Person zu kümmern – gespielt von uns bei einer Gruppenarbeit im Rahmen der oben genannten Ausbildung.
Betroffenheitsgeheuchel füllt die Leere öden Lebens aus, es entführt den Spießer aus der Ödnis des Alltags und suggeriert, dabei gewesen zu sein, bei den ganz furchtbar spannenden Ereignissen auf dieser Welt. Aber es sind nicht nur die Alten und Kranken, nicht nur die an Kredite und Job gefesselten und nicht nur die, die sich nach 20 Jahren Ehe nichts mehr zu sagen haben, die so langweilig vor sich hinvegetieren und emotionalen Dosenfraß nötig haben – es sind auch die Jungen, die sich in den Medien äußern, als wären Sie als New Yorker Feuerwehrmann dabei gewesen – dabei steht ihnen doch die Welt für eigene und echte Abenteuer offen.
Und das macht mich betroffen. Zumindest ein Stück weit.