Vorsicht, dieser Beitrag ist echt lang und echt subjektiv, ich hätte ihn auch überschreiben können mit “Liebes Tagebuch…”
Vorspeise:
Vom Beginn meiner Politisierung bis zu dem Zeitpunkt, da ich den ersten Schritt gemacht habe, einer politischen Gruppierung als festes Mitglied beizutreten – sogar einer Partei, man höre und staune – musste fast ein viertel Jahrhundert vergehen. Vom Abschicken des Antrages bis zu den ersten Zweifeln vergingen jedoch gerade ein paar Tage.
Das erste, was mir ganz sauer aufstieß, war eine twitter-Begegnung mit Frau Seeliger, die herumzwitscherte, dass Ihr “einer von den Piraten Gehirnwäsche unterstelle“, obwohl ich das erstens gar nicht gemacht habe und zweitens noch gar kein offizieller Pirat bin. Vor allem aber die Tatsache, dass meine Aussage als Argument herhalten musste, die Piratenpartei sei nicht diskursfähig und meine Aussage benutzt, ja missbraucht wurde, sie zu diskreditieren bereitete mir erste, furchtbare Kopfschmerzen, weil ich nicht als ich sondern als Parteimitglied wahrgenommen wurde. So weit war und bin ich ich in meinem naiven Feierabend-Revolutionärs-Köpfchen noch gar nicht. Hey, ich bin´s doch nur.
Hauptgang:
Schon nach Jens Seipenbuschs Aussage, die Piratenpartei wäre offen für alle Menschen, “ob eher rechts oder eher links” (ich habe mich an anderer Stelle schon viel zu sehr und ein klitzekleines bisschen auch am Thema vorbei darüber ausgelassen, darum jetzt in der gebotenen Kürze) gab es diese fantastischen Statements, man solle brechen mit althergebrachten Polit-Schubladen wie links und rechts und darum sei dieses Statement anders zu bewerten und nicht ernst zu nehmen. Außerdem sei die Piratenpartei nun mal weder links noch rechts.
Stimmt vielleicht. Die Piratenpartei an sich ist vielleicht weder links noch rechts. Dennoch lassen sich politische Inhalte natürlich in dieses Schema einordnen. Und für mich spiegeln alle Punkte des Piratenkodex sowie die Satzung eher linke als rechte Inhalte wieder. Für mich, also für MICH ganz persönlich, ist der Kampf für Grundrechte, für Freiheit, gegen Überwachung und Repression und für Gerechtigkeit durchaus am Ende immer ein Kampf von eher links gegen rechts, von freiheitlich gegen autoritär. Vor allem die CDU und die SPD (die immer wieder versucht, die CDU rechts zu überholen, weil dort angeblich mehr Wähler abzugreifen sind) bauen ohne erkennbaren Widerstand der bürgerlichen Grünen die Grundrechte ab und schaffen ungerechte Lebensgrundlagen innerhalb dieses Landes und global. Richtig, die FDP hat einige Bürgerrechtler in den Reihen, aber ist diese freiheitliche Attitüde nicht eher nur die private Version der Freiheit der Märkte? Was wird die FDP wohl zur – angeblich contentwirtschaftsschädigenden – Reform des Urheberrechts, zur Förderung der – angeblich contentwirtschaftsschädigenden – Privatkopie, zur Sozialisierung von öffentlich finanziert entwickelten Produkten und Ideen, zur Abschaffung von Softwarepatenten sagen? Wie steht die FDP wohl zur Herausgabe von Nutzerdaten derer, die sich verdächtig gemacht haben, illegal Musik getauscht und damit der Wirtschaft geschadet, Arbeitsplätze gefährdet (böse böse böse) zu haben? Und die FDP – sie ist wenigstens ehrlich – will gar keine gerechte Gesellschaft, so einfach ist das für die. Piraten wollen das aber. Darum finde ich – also ich jetzt, ich ganz persönlich – Jens´ Aussage zwar noch lange nicht dramatisch, aber immerhin derbst unglücklich.
Schließlich habe ich mich auch damit abfinden können, dass die Piratenpartei Jörg Tauss aufgenommen hat, dessen katastophales Abstimmungsverhalten, das in seinen Augen wohl sozialdemokratisch, in meinen Augen aber eher – naja, stimmt: Wer hat uns verraten…? – es war sozialdemokratisch. Und obwohl Herr Tauss außerdem – ganz Polit- und Medienprofi eben – lieber meinen Namen entfernt, wenn er einen meiner Beiträge retweetet – habe ich vor allem nach dieser Rede mit dieser Personalie vorerst meinen Frieden gefunden.
Es gab in den letzten Wochen eine Menge Gegenwind für die Piratenpartei. Sie sei nicht nur eine Einthemen- sondern außerdem eine reine Spaß- und Witz- oder maximal Protestpartei. Ja, leck mich doch am Arsch, wie außerordentlich wunderbar, was besseres kann dieser Farce an Parlament, dieser toter als toten Immobilie Reichstag doch gar nicht passieren. Protest ist mega-out, die Grünen stecken bis zum Knöchel im Verdauungstrakt der Etablierten und Lachen können die hohen Herren und Damen nur noch über eine Diätenerhöhung. Höchste Zeit also, frischen Wind nach Berlin und in die Landesparlamente zu blasen. Alles klar zum Ändern.
Der Partei fehle es also an Konzepten zu Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik, zu Sport- und Genderpolitik, zur Europa-, Umwelt-, Familien- und zur Politikpolitik. Ja, leck mich doch dobbelt am Arsch, wer sind wir denn? Die Grünen? Ich habe meinen Mitgliedsantrag abgegeben, um für Grundrechte und Meinungsfreiheit einzutreten. Gegen die totale Überwachung und die totale Erfassung der Bürger. Dafür, dass ich sagen kann, was ich will, dass ich schreiben kann, was mir stinkt, dass ich demonstrieren kann, ohne weggeknastet oder verkloppt zu werden, dafür dass ich selbst über die Speicherung meiner Daten bestimmen kann, dafür, dass ich unbeobachtet über die BAB7 in den Urlaub fahren kann, ich der pantoffelfrau Schweinkram in den Hörer flüstern kann, ohne im Hinterkopf zu haben, dass sich irgendein BKAler mit Kopfhörer darauf einen schüttelt. Für mein Recht, etwas zu verbergen. Dafür, dass ich mich informieren kann, wo ich will, ohne nach der Lektüre Adornos Besuch von der GSG 9 und die Abgabe einer DNS-Probe fürchten zu müssen. Dafür, dass ich auch morgen noch kraftvoll zubeißen kann, obwohl mir Begriffe wie ‘Gentrifikation’ geläufig sind und ich unfallfrei ein Buch bedienen und sogar weiß, wo ich eines herkriegen kann. Es geht bei den Piraten doch nicht darum, von 2010 bis 2014 allein zu regieren und die verdammte Welt zu retten – es geht darum, mit viel Glück ein paar Piraten in den Reichstag zu bekommen, die den etablierten Lobbymarionetten zeigen, wo die Wurst wächst, es geht darum, Aufsehen zu erregen, in den Medien präsent zu sein, die Wahrheit zu verkünden und die Lügen der geliebten Bundesregierung zu entlarven. Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten. Anderes zu glauben – so naiv bin nicht einmal ich. Aber über die Verlogenheit dieses korrupten Haufens reden und schreiben und dagegen demonstrieren und sich organisieren zu können, ohne Zensur, den Vorschlaghammer des §129 oder andere Sanktionen der mittlerweile völlig entrückten Staatsmacht fürchten zu müssen, das ist doch elementar wichtig.
Und um diesen Kampf nicht nur mit einem blog zu führen, das kaum jemand kennt (danke für die Blumen, liebe lanu), sondern vernetzt mit Gleichgesinnten, dies war mein hauptsächlicher Beweggrund, die Mitgliedschaft bei den Piraten zu beantragen.
Nachspeise:
Am Wochenende war der Bundesparteitag der Piraten und all das Gemecker und Gezeter über IT-Nerds, Protest- oder Witzpartei, bürokratisches Getue und viel Gefasel um nichts ficht mich nicht die Erbse an. Aber als ich am Sonntag Abend von der Wahl Bodo Thiesens zum stellvertretenden Irgendwasbeisitzer hörte, fiel ich – wie so viele – fast vom Hocker.
Mit viel Blabla und Gesülz hat Thiesen in einigen Forenbeiträgen nicht nur den Holocaust angezweifelt und sich dabei auf revisionistische Autoren bezogen, er hat sogar leibhaftig geäußert, Hitler habe gar keinen Krieg gewollt (was mich btw. an eine von der pantoffelfrau betreute paranoid-schizophrene Patientin erinnert, die immer von Adolf Hitler Besuch bekommt, der nämlich privat und in zivil ganz außerordentlich nett ist). “Hitler hat den Krieg nicht gewollt.” (sic!). In einer aktuellen Stellungnahme besteht Thiesen darauf, dass seine ‘angeblich rechtsradikale Einstellung’ nichts mit seiner Parteiarbeit zun hat, ein Wort des Bedauerns, dass er diese abstrusen Thesen vertreten hat, sucht man indes vergeblich.
Die Diskussionen im Netz kochen – zu Recht – auf höchster Flamme und natürlich findet man von der Forderung nach radikalsten Konsequenzen über die larifariwischiwaschitrallafit-Weichwäscherei-Rechtfertigung bis zum äußerstem Verständinis alle Nuancen bei den entsprechend üblichen Verdächtigen (aber auch durchaus gutes Kritisches).
Mein Lieblingsargument in dieser Diskussion ist, dass die Piraten sich doch ‘Meinungsfreiheit’ auf die Fahne geschrieben haben und jetzt entgegen dieses Grundsatzes mit Thiesen umgehen wie Schäuble mit G8-Gegnern. Der Begriff “Neu-Faschismus” fiel – nach modifiziertem Godwin-Gesetz – bei Twitter. Ja, scheiß die Wand an: Es ist keine Meinung, auch keine kritische Meinung, den Holocaust anzuzweifeln und Hitler den Willen zum Krieg abzusprechen. Es ist Dreck, den ich nicht tolerieren will, kann und werde. So wie wahrschenlich viele von Thiesens Verteidigern jedem CDU-Mitglied bei gleichlautenden Äußerungen die Nazikappe aufsetzen würden, mache ich das auch bei den Piraten. Und mit mir, das macht Hoffnung, ein großer Teil der bei den Etablierten so genannten Basis.
Bodo Thiesen hat diese unrechtsradikale Satzung mit ausgearbeitet, er ist bei den Piraten auf einen komplett egalen Posten gewählt und er ist von der Partei abgemahnt worden, einen solchen Ronz nicht zu wiederholen und nicht nur dadurch haben sich Vorstand und Partei als solches absolut glaubhaft von allen rechtsradikalen, nationalistischen, neonazistischen und sonst wie derart übel beleumundeten Postionen distanziert und doch: All dies ist, wie die Forderung nach einer erneuten, klaren Stellungnahme Thiesens, nicht entscheidend. Entscheidend ist das Signal. Und tragisch wird der virale Effekt bleiben.
Die Fische zwitschern es von den Dächern, dass der Vorstand sich morgen zu äußern gedenkt und es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn morgen nicht der Rücktritt oder Rausschmiß Thiesens von allen Ämtern bekannt gegeben würde, aber ich fürchte, dass das sehr spät kommt und das Kind schon derbe tief in den Brunnen gefallen ist. Ich war fest davon überzeugt, dass eine ganze Menge Stimmen aus dem Lager derer zu mobilisieren gewesen wäre, die sonst nicht wählen, weil sie von der Einschränkung der Grundrechte direkt betroffen sind. Ich hatte auch schon Ideen für ein paar witzige Flyer und Plakate. Diese Gruppe hätten die Piraten aber wahrscheinlich selbst dann jetzt verloren, wenn Sie Thiesen zur Ersatzklofrau gewählt hätten. Und niemand weiß besser als die Piraten: Das Netz vergisst nie.
Absacker:
Ich mache vor allem den zahleichen Anwesenden des BPT, die Thiesen und dessen Äußerungen nicht kannten, keinen Vorwurf und ich bin fest davon überzeugt, dass die Piratenpartei und deren Vorstand nicht rechtsradikal sind und es mag auch sein, dass es der richtige Weg ist, über Spinner wie Bodo Thiesen, die bei den Piraten ganz ganz klar eine Miniminorität stellen, hinwegzusehen, um das große Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nach reiflicher Überlegung ist für mich allerdings klar, dass ich, also ich ganz persönlich, keiner Partei angehören kann und will, die einen Holocaustbezweifler und Hitler-als-Opfer-Darsteller in was auch immer für eine Position wählt und dort belässt und so hoffe ich, dass Jens´Worte, die ich just am Ende dieses Artikels lese, …
Ich bedaure persönlich auch, dass er zum stellvertretenden Richter des Schiedsgerichts gewählt wurde, weil ich der Meinung bin, dass er eigentlich kein Amt in der Partei ausüben sollte. Wir haben damals, als ich auch schon im Bundesvorstand der Piratenpartei war, unmissverständlich mit unserem Verweis klar gemacht, dass wir weitere Äußerungen dieser Art nicht tolerieren werden. Und wenn jetzt in der derzeitigen Debatte solche Äußerungen von ihm noch einmal fallen, dann wird er auch mit weiteren Parteimaßnahmen rechnen müssen. (…)
Aus meiner Sicht wird sich der Bundesvorstand in Kürze von diesen Äußerungen ganz klar distanzieren.
… nicht nur Worthülsen sind, sondern unverzüglich – also wirklich unverzüglich – klare – also wirklich klare – Taten folgen. Denn ich habe eigentlich Lust auf Piratenarbeit.
PS.: Und die Verteidiger Bodo Thiesens mögen in diesem zu erhoffenden Fall bitte ebenso zeitnah erkennen, dass sie – zumindest von mir – auch nicht erwünscht sind. Weichwürste und Um-Jeden-Preis-Alle-erreichen-Woller bitte zur SPD.
P.P.S.: Ach, und Bodo, falls Du das hier liest: Wenn Du den Piraten wirklich helfen willst, erkäre noch heute, dass Deine Ansichten mit denen der Piraten nicht in Einklang zu bringen sind und bewirb Dich bei Oettinger als Aushilfsdampfplauderer.